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Interview Prof. Dr. Annika Herr

Interview mit Prof. Dr. Annika Herr

Im Netz kursiert ein Kommentar der Sozialwissenschaftlerin Alessandra Minello für die Zeitschrift «Nature». Darin erzählt sie, dass sie auf die Nachtstunden ausweichen müsse, um die Vorlesungen für ihre Studierenden aufzunehmen. Auf den allerersten Aufnahmen sei im Hintergrund noch die Spielzeugtrompete ihres zweijährigen Sohnes zu hören gewesen.
Frau Professor Herr, wie werden Sie in diesen Wochen Ihrer Doppelrolle als Mutter und Wissenschaftlerin gerecht?

Das ist eine große Herausforderung, die mein Mann und ich gemeinsam stemmen. Damit sind wir ohne einen geregelten Schul- und Kitabetrieb rund um die Uhr und zeitweise bis an unsere Grenzen beschäftigt. Im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen bin ich glücklicherweise in der Lage, meine Arbeitszeit relativ frei einzuteilen. Die Kinder leiden jedoch unter den fehlenden sozialen Interaktionen.

 

Erste Arbeitspapiere belegen, dass Forscherinnen seit dem Ausbruch der Pandemie tendenziell weniger wissenschaftliche Artikel eingereicht haben als im Vergleichszeitraum vergangener Jahre, Männer dagegen mehr. Nicht nur in Krisenzeiten sind in der Wissenschaft Belastungen durch Betreuung und Pflege ungleich verteilt. Welche Maßnahmen würden nach Ihrer Meinung Forscherinnen helfen, um die beruflichen Nachteile durch Elternschaft im Wissenschaftssystem zu reduzieren?

Zugang zu Kinderbetreuung und Pflege sind dafür essentiell. Derzeit ist beides schwierig. In der Forschung ist es wichtig, dass es ruhige, hochkonzentrierte Arbeitsphasen gibt. Da hilft auch die Unterstützung durch Hilfskräfte nur wenig. Durch die Umstellung auf Online-Lehre war die Vorbereitung der Lehre dazu auch noch aufwändiger. Wenn möglich sollte dafür das Lehrdeputat im folgenden Semester als Ausgleich reduziert werden. Dies gilt jedoch auch für Väter, die derzeit die Kinderbetreuung übernehmen. Unabhängig von der jetzigen Situation ist es wichtig, Wissenschaftlerinnen langfristige Perspektiven zu einem früheren Zeitpunkt zu geben, damit sie den Schritt in die akademische Laufbahn trotz Kinderwunsch wagen.

 

Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Situation in der Lehre, die sicher auch für Sie und Ihr Institutsteam herausfordernd ist. Wie reagieren Ihre Studierenden und welche Erfahrungen werden Sie aus dem virtuellen Lehrbetrieb in kommende Semester mitnehmen?

Die Studierenden haben sich sehr schnell der Situation angepasst. Im Sommer halte ich nur Mastervorlesungen, daher ist eine synchrone Lösung über BigBlueButton möglich. Dazu stelle ich Aufzeichnungen zur Verfügung. Dies wird von den Studierenden geschätzt, da sie je nach Präferenz die synchrone Veranstaltung mit festem Termin und Interaktion, zum Beispiel durch gemeinsame Notizen, Umfragen, Abstimmungen und die Chatfunktion, nutzen oder nur die vertonten Folien anschauen können. Dazu werden, wie auch vorher schon, ILIAS-Tests zur Selbstüberprüfung sowie asynchrone und synchrone Übungen und das Forum angeboten.

Mitnehmen werde ich davon erstens die Erkenntnis, dass mir die Präsenz der Studierenden stark fehlt. Das direkte Feedback und Diskussionen sind ein essentieller Bestandteil der Lehre und schwer zu ersetzen. Zweitens ist eine gute Online-Lehre eine sehr große Herausforderung. Es ist jedoch drittens erstaunlich, wie schnell es tolle Tools und Bandbreiten gibt, wenn man sie braucht. Viertens wird eine zeitlich und örtlich flexible Lehrform von vielen Studierenden präferiert, was ich schon aus den Kommentaren zur Videoaufzeichnung der VWL I gelernt habe. Externe Vortragende und Expertinnen und Experten können ebenfalls ohne großen Reiseaufwand in die Vorlesung integriert werden. Ich könnte mir vorstellen, die Audio-Aufnahmefunktion bei den Vorlesungen zu nutzen und auch Gastvorträge in den Vorlesungsraum zu übertragen, wenn eine Anreise umständlich ist.

 

Das deutsche Gesundheitssystem und die Gesundheitspolitik befinden sich seit Wochen in einem Stresstest. Noch sind wir mittendrin in der Corona-Krise, doch schon jetzt wird der Ruf laut nach Lehren für die Zukunft. Was können wir aus Ihrer Sicht als Gesundheitsökonomin aus der Krise lernen?

Wir stellen fest, dass in Krisen Ineffizienzen noch deutlicher werden, jedoch auch, dass das System letztendlich handlungsfähig ist und dass auf einmal große Sprünge in der Digitalisierung der Gesundheitsversorgung möglich sind. Das System wird sich auf zukünftige Krisen vorbereiten, Verantwortlichkeiten festlegen und Ressourcen dafür einplanen. Ein Beispiel für eine fixkostenintensive, aber notwendige Reservehaltung zeigt die aktuelle Diskussion um Intensivbetten, Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung. Der Mangel an Schutzausrüstung hat die Probleme offenkundig werden lassen. Man kann die Debatte aber auch auf den Mangel an gut ausgebildetem Personal oder die Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln ausweiten. Wir haben auch gelernt, dass uns globale Herausforderungen in typischerweise national agierenden Gesundheitssystemen schneller erreichen, als wir gehofft haben und es daher wichtig ist, sich in einen internationalen Austausch über Lösungsoptionen und von Daten zu begeben.

 

Lassen Sie uns abschließend eine Prognose wagen. Wenn Sie in 5 Jahren auf das Sommersemester 2020 zurückblicken, welche Veränderung hat seitdem in Ihren Unialltag Einzug gehalten?

Wir werden vor allem unsere gegenseitige Präsenz höher schätzen und uns freuen, dass Vorlesungen und Gespräche in Räumen der Uni möglich sind. Wir werden aber auch mehr an virtuellen Vorträgen und Konferenzen in aller Welt teilnehmen können. Das wird die Forschungslandschaft näher aneinander bringen, vor allem für den Nachwuchs mit wenig Mitteln. Wir werden mit Kolleginnen und Kollegen anderer Universitäten und Disziplinen über Videokonferenzen enger vernetzt sein. Die Digitalisierung wird die Arbeitsprozesse effizienter gestalten.

Vielen Dank für Ihre Auskünfte.

 

Die Fragen stellte Birgitt Baumann-Wohlfahrt