Wissenschaftsrat empfiehlt Bau des „Zentrums für Wissenschaftsreflexion“ an der LUH

Von der Vorsitzenden des Wissenschaftsrats, Dorothea Wagner, zu den beiden besonders herausragenden Vorhaben in der aktuellen Förderphase 2021 des ‚Bund-Länder-Programms Forschungsbauten‘ gezählt zu werden, gleicht einem Ritterschlag. Der Wissenschaftsrat hat am 24. April 2020 empfohlen, den Forschungsbau "Zentrum für Wissenschaftsreflexion" der Leibniz Universität Hannover zu fördern. Dieser wird - vorbehaltlich der abschließenden Entscheidung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) am 26. Juni 2020 - mit 14,75 Millionen Euro finanziert, die jeweils zur Hälfte vom Bund und vom Land Niedersachsen getragen werden.

Der Standort des zukünftigen Forschungsbaus liegt in Sichtnähe zum Hauptgebäude der LUH, in der Hannoveraner Nordstadt (Im Moore 23). Der Bau erhält ein Untergeschoss und bis zu fünf Obergeschosse mit einer gesamten Nutzfläche von mindestens 2.000 Quadratmetern. Ziel ist eine Architektur, die anregt, die Gedanken zu öffnen und neue Konzepte zu entwickeln. Der Bau bietet Räumlichkeiten für interdisziplinäre Forschung, eine Wissenswerkstatt mit innovativer Forschungsinfrastruktur, Begegnungs- und Verweilorte zur Förderung von formeller und informeller Kommunikation und Kooperation sowie Veranstaltungsräume für wissenschaftliche Konferenzen.

Geplant ist, in diesem Zentrum die Wissenschafts- und Hochschulforschung der Leibniz Universität Hannover zusammenzuführen und sozialwissenschaftliche, philosophische, wirtschaftswissenschaftliche sowie rechtliche Forschung zu diesem Zweck zu integrieren. Die Leibniz Universität besitzt bereits heute bundesweit Alleinstellungsmerkmale in der Wissenschaftsreflexion, mit schon jetzt 13 Professuren und spezifisch zugeschnittenen Strukturen der Nachwuchsförderung.

Zu den sechs Forschungsgruppen, die in den neuen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsbau einziehen werden, gehört das Leibniz Center for Science and Society (LCSS), dessen Forschungsfokus auf den Wechselwirkungen zwischen Hochschule, Wissenschaft und Gesellschaft liegt.

Wir nutzten die Gelegenheit zu einigen Fragen an Professor Stephan Thomsen, Vorstand des LCSS und Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. 

 

Herzlichen Glückwunsch, Herr Professor Thomsen, zu dieser bemerkenswerten Förderung. Wie feiert man virtuell einen solchen Erfolg?

Vielen Dank. Leider mussten die Feier und der persönliche Austausch erst einmal verschoben werden. Die Gruppe der federführenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besteht ja aus zehn Mitgliedern, hinzu kommen die Beteiligten aus der Verwaltung, die den Prozess sehr engagiert unterstützt haben.

Die Empfehlung ist Ergebnis eines langen, mehrstufigen Antragsprozesses, bei dem neben den wissenschaftlichen Ausführungen auch die baurechtlichen Erfordernisse klar dargelegt werden mussten. Die gegenwärtigen Beschränkungen lassen es nicht zu, dass sich alle Beteiligten einmal treffen können. Virtuell wird der Austausch selbstverständlich fortgesetzt und die Freude ist bei uns allen sehr groß.

 

Spezialisierung, Arbeitsteilung, Abstraktion – diese Prozesse spielen heute mehr denn je eine wichtige Rolle bei der Erzeugung neuen Wissens. Warum ist es nach Ihrer Meinung notwendig, „einen Schritt zurück zu treten“ und die Wissenschaft selbst zum Objekt der Betrachtung zu machen?

Wissenschaftsreflexion analysiert die Praktiken, Prozesse, Institutionen und Organisationen, die mit der Generierung wissenschaftlichen Wissens befasst sind. Zu ihren Forschungsgegenständen gehören insbesondere Voraussetzungen und Kontexte, Formate und Kooperationen, Verfahren der Qualitätskontrolle, Prozeduren der Anerkennung sowie Prozesse der Institutionalisierung wissenschaftlicher Forschung. Sie untersucht Hochschulen und außeruniversitäre akademische Einrichtungen und betrachtet hierbei Governance-Strukturen, Formen der Selbstverwaltung, Einflüsse von Fördereinrichtungen sowie Genese und Aktivitäten von Dachorganisationen.

Wir haben es hier mit einem sehr komplexen und in weiten Zügen selbstlegitimierenden System zu tun, das zu großen Teilen aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Dies wirft Fragen der Verantwortung und Wahrnehmung auf, deren Klärung zentral ist. Zum einen, um die Forschungsmöglichkeiten und die Forschung selbst besser gestalten zu können, zum anderen aber auch, um möglichen Verzerrungen und Missbräuchen Einhalt zu gebieten.

Wir sehen es aktuell in der öffentlichen Diskussion um die Maßnahmen zu Covid19: Nicht alles, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von sich geben, ist wissenschaftlich. Wenn sie aber nicht klar differenzieren, hat das Folgen für die Wissenschaft insgesamt.

 

Welche Forschungsziele verfolgen Sie aktuell im Leibniz Center for Science and Society?

Das LCSS ist Teil der Wissenschaftsreflexion an der Leibniz Universität. Das Zentrum verfolgt vier Ziele: Es analysiert interdisziplinär die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und verbindet dabei systematisch Theorie und Empirie. Das Zentrum will außerdem die Hochschul- und Wissenschaftsforschung enger zusammenführen und eine strukturierte Graduiertenausbildung etablieren.

Das wesentliche Ziel der Forschung ist die interdisziplinäre Untersuchung der Forschungsgegenstände. Das hört sich sehr vertraut an, weil der Begriff schon lange verwendet wird, ist aber eine Menge Arbeit, da es von allen Mitgliedern die Öffnung für andere disziplinäre Sichtweisen erfordert, um diese in einen integrierten Ansatz zu überführen.

Diese Arbeit ist aus meiner Sicht sehr fruchtbar, weil sie den persönlichen Horizont unglaublich erweitert. Sie ist aber auch aufwändig und herausfordernd, da alle die gewohnten Pfade ihrer persönlichen disziplinären Arbeit verlassen müssen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, da – wie Sie sagten – Spezialisierung immer weiter verbreitet ist. Allerdings ist Interdisziplinarität dabei kein Widerspruch: Aus meiner Sicht steigert der Ansatz sogar das Verständnis über spezielle Fragestellungen in jeder einzelnen Disziplin.

 

Sie schildern, welche Bereicherung die fächerübergreifende Arbeitsweise für Sie ist. Wo hat sie ihre Grenzen?

Wie ich eben schon sagte, kann interdisziplinäre Arbeit sehr fruchtbar sein. Sie ist aber zugleich auch mühsam und langwierig. In einer immer stärker metrifizierten Wissenschaft, in der Publikationsrankings, Impact-Faktoren und Ähnliches die inhaltliche Beurteilung der Erkenntnisse überlagern, birgt ein solch langer Weg, insbesondere in der Qualifikationsphase, ein hohes Risiko und schreckt dadurch ab. Um Erkenntnisse und Ansätze aus einer Disziplin nämlich in eine andere zu überführen und diese damit zu erweitern, braucht es Zeit und intensiven Austausch sowohl innerhalb als auch über die Disziplinen hinweg. Zeit ist aber das knappste Gut in der Wissenschaft und limitiert die Möglichkeiten entsprechend.

 

Virologen und Epidemiologen sorgen seit Wochen dafür, dass die Wissenschaft in der öffentlichen und politischen Diskussion noch nie so präsent war wie heute. Welchen Standpunkt vertritt der Volkswirt - warum kann oder sollte man wissenschaftlichen Ergebnissen vertrauen?

Selbstverständlich begrüße ich die große Rezeption der Wissenschaft in der Öffentlichkeit, auch wenn ich mir die Umstände dazu nicht gewünscht hätte. Die Situation ist für die Wissenschaft aber eine Herausforderung, da die Adressaten der Erkenntnisse über ganz unterschiedliche Erfahrungen verfügen und dadurch auch zum Teil nicht zu befriedigende Erwartungen an die Verlässlichkeit der Aussagen haben. Dies führt dazu, dass teilweise Schlussfolgerungen aus einzelnen Ergebnissen gezogen werden, die nicht zulässig sind. Hier ist aber immer zu beachten, wer denn schlussfolgert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben deshalb eine besondere Verantwortung.

Die Mehrzahl der Forscherinnen und Forscher ist bei ihren Aussagen vorsichtig und macht ihre Annahmen und Wertungen deutlich. Bei Berücksichtigung dieser Einschränkungen wird der Gehalt der wissenschaftlichen Ergebnisse nachvollziehbar und hilft so, Dinge besser zu verstehen. Aus diesem Grund werden für politische Entscheidungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieler Disziplinen mit ihrem Rat gemeinsam einbezogen. Die disziplinären Erkenntnisse sind dabei Puzzlesteine, die gemeinsam zu einem besseren Bild führen.

 

Vielen Dank für Ihre Auskünfte.

 

Die Fragen stellte Birgitt Baumann-Wohlfahrt