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„Woran forschen Sie gerade, Herr Dr. Zeidler?“

„Woran forschen Sie gerade, Herr Dr. Zeidler?“

© F. Winkler/Grafik: B. v. Knoblauch

Wissenschaft ist wichtig – und sie verständlich darzustellen ebenso. Wie lässt sich gesellschaftliches Vertrauen in die Wissenschaft stärken? Indem die Akteure über ihre Forschungsvorhaben, -methoden und -ergebnisse berichten. Im aktuellen Beitrag:
Dr. Jan Zeidler, Geschäftsführer und Forschungsleiter am Center for Health Economics Research Hannover (CHERH) zum Projekt „Children of mentally ill parents-network“ (CHIMPS-NET).

 

Wie erklären Sie einem Laien den Kern und die Relevanz Ihres aktuellen Forschungsvorhabens?

Die aktuelle Pandemie hat einmal mehr gezeigt, wie wichtig ein effizientes und gut funktionierendes Gesundheitssystem für die Versorgung der Bevölkerung ist. Das Center for Health Economics Research Hannover (CHERH) hat das Ziel, die Entscheidungsträger bei der Optimierung der Versorgungsstrukturen auf Basis wissenschaftlicher Methoden zu unterstützen.

Unsere primäre Aufgabe ist die systematische Evaluation der Kosten und Versorgungseffekte verschiedener Gesundheitstechnologien unter Alltagsbedingungen. Im Mittelpunkt der Studien stehen die Patienten. Es geht in der Gesundheitsökonomie darum, mit den durch die Solidargemeinschaft zur Verfügung gestellten Ressourcen einen möglichst hohen Nutzen für die Patienten zu erzielen. Um einen Beitrag zu dieser wichtigen Aufgabe zu leisten, analysieren wir innovative Arzneimittel, digitale Versorgungsangebote und neue Therapiekonzepte aus der Perspektive der alltäglichen Versorgung. Die praxisorientierte Analyse der realen Versorgungssituation nennt man auch Versorgungsforschung.

Als drittmittelfinanziertes Forschungszentrum führen wir eine Vielzahl an gesundheitsökonomischen Versorgungsforschungsstudien durch. Ich möchte unser Projekt „Children of mentally ill parents-network“ (CHIMPS-NET) näher vorstellen.

 

Wie lautet Ihre Forschungsfrage und welcher Methoden bedienen Sie sich?

CHIMPS-NET betrachtet die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychisch kranken und suchtkranken Eltern. Kinder psychisch kranker Eltern haben ein mehrfach erhöhtes eigenes Erkrankungsrisiko. Etwa 50% der betroffenen Kinder sind Studien zu Folge selbst auffällig oder im Grenzbereich zur Auffälligkeit. Diese Kinder und Jugendlichen sind allerdings bislang in aller Regel klinisch ungesehen, galten lange sogar als „vergessene Risikogruppe“.

Das Ziel von CHIMPS-NET besteht darin, die Kinder psychisch kranker Eltern frühestmöglich zu sehen, sie nach psychischen Auffälligkeiten zu screenen und ihnen je nach medizinischer Ausgangslage, Indikation und Bedarf ein passgenaues Behandlungsangebot für die ganze Familie zu unterbreiten. Die Aufgabe des CHERH ist es, dieses innovative Modellkonzept gesundheitsökonomisch zu evaluieren, d. h. wir stellen die Kosten und den Nutzen der neuen Versorgungsform systematisch der aktuellen Standardversorgung gegenüber.

Neben der Erhebung einer Vielzahl an Fragenbögen und Gesundheitsmaßen, beispielsweise zur Lebensqualität und psychischen Gesundheit, nutzen wir für die Beantwortung der Forschungsfragen auch Abrechnungsdaten der Krankenkassen. Sogenannte GKV-Routinedaten bieten vielfältige Einsatzmöglichkeiten zur Abbildung der Versorgungssituation unter Alltagsbedingungen, da bei jedem Kontakt der Patienten mit dem Gesundheitssystem relevante Informationen zwischen den Leistungserbringern und den Krankenkassen ausgetauscht werden.

 

Welche Ergebnisse und Anwendungsmöglichkeiten erwarten Sie?

Mit CHIMPS-NET wird passgenau eine präventive und bei Bedarf auch psychotherapeutische Behandlung für die betroffenen Kinder und Familien implementiert. Die Interventionen beinhalten diagnostische, therapeutische und präventive Elemente, um psychische Symptome der Kinder frühzeitig behandeln, deren Chronifizierung vermeiden und so dem Teufelskreis von transgenerationaler Weitergabe psychischer Erkrankungen begegnen zu können. Es handelt sich also um ein Modellkonzept, welches die betroffenen Familien gezielt dabei unterstützt, die negativen Folgen psychischer Erkrankungen zu mindern bzw. diese erst gar nicht eintreten zu lassen. Bei einem durch die wissenschaftliche Evaluation nachgewiesenem Erfolg kann diese neue Versorgungsform bundesweit in die Versorgung übernommen und ein breiter Zugang für alle betroffenen Familien sichergestellt werden.

 

Mit welchen Mitteln finanzieren Sie Ihr Forschungsprojekt?

Das Projekt wird durch den 2016 von der Bundesregierung ins Leben gerufenen Innovationsfonds gefördert. Er hat das Ziel, neue Versorgungsformen, die über die bisherige Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen, und Versorgungsforschungsprojekte, die auf einen Erkenntnisgewinn zur Verbesserung der bestehenden Versorgung ausgerichtet sind, zu fördern. Das CHERH ist als gesundheitsökonomisches Forschungszentrum an einer ganzen Reihe von Innovationsfondprojekten als Konsortialpartner beteiligt.

 

Welches Problem in Ihrem Forschungsalltag ließe sich nach Ihrer Meinung ohne Geld lösen?

In der Versorgungsforschung spielt der Zugang zu belastbaren Daten aus der Alltagsversorgung eine zentrale Rolle. Insbesondere Routinedaten der Krankenversicherungen stellen eine ganz wichtige Grundlage für unsere empirischen Forschungsprojekte dar. Leider ist der Zugang zu Versorgungsdaten auch heute noch mit großen technischen und administrativen Hürden verbunden. Natürlich ist der Datenschutz in der Gesundheitsforschung von besonderer Relevanz. Daher ist in diesem Zusammenhang eine angemessene Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und informationeller Selbstbestimmung ganz entscheidend. Es würde aus Perspektive der Wissenschaft bei der evidenzbasierten Optimierung der Versorgungsstrukturen sehr helfen, wenn bestehende Barrieren beim Zugang zu Versorgungsdaten abgebaut werden könnten.

 

In der wissenschaftlichen Praxis ist Versuch und Irrtum ein grundlegender Lern- und Erkenntnisprozess. Eine gesunde Fehlerkultur entlastet. Wir möchten daher Antworten auf die Frage „Was ist schiefgelaufen?“ veröffentlichen. Gibt es in Ihrer akademischen Laufbahn eine persönliche „Geschichte vom Scheitern“ und wenn ja, was können andere aus ihr lernen?

Wenn man mit Routinedaten aus der Alltagsversorgung arbeitet, ist es wichtig, über entsprechende Plausibilisierungs- und Validierungsverfahren die Qualität der Daten in jeder wissenschaftlichen Studie zu sichern. Man muss sich dabei immer bewusst sein, dass die Daten nicht primär für wissenschaftliche Zwecke erhoben werden, sondern den Krankenkassen bei der Erfüllung ihrer administrativen Aufgaben dienen. Es ist also ein umfassendes methodisches Expertenwissen bei der wissenschaftlichen Analyse dieser Abrechnungsdaten erforderlich.

Ich forsche seit vielen Jahren mit Hilfe dieser Daten und habe gelernt, dass es aufgrund der Komplexität der Datensätze zu Fehlern in der Aufbereitung und Analyse kommen kann. Deshalb ist aus meiner Sicht wichtig, offen und transparent mit diesen spezifischen Herausforderungen umzugehen. Nur so sichern wir das Vertrauen in unsere Studien und können einen evidenzbasierten Beitrag zur nachhaltigen Optimierung der Versorgungsstrukturen leisten.

 

Vielen Dank für Ihre Auskünfte.

 

Die Fragen stellte Birgitt Baumann-Wohlfahrt.