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„Mich begeistert, dass alle meine forschungsbezogenen Steckenpferde in der Fakultät verankert sind.“

„Mich begeistert, dass alle meine forschungsbezogenen Steckenpferde in der Fakultät verankert sind.“

Arndt Reichert hat vor wenigen Monaten noch in einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen Regierungsbeamte in Entwicklungsländern beraten. Der Professor für Gesundheitsökonomie und Entwicklungsforschung lehrt und forscht seit 1. September am Institut für Gesundheitsökonomie der Leibniz Universität Hannover. Prof. Dr. Reichert gab Auskunft darüber, welchen Einfluss ein Jahr in Mexiko auf seinen akademischen Werdegang hatte, welchen Forschungsvorhaben er sich zukünftig widmet und was ihn trotz vieler, bislang ungelöster Zukunftsfragen optimistisch stimmt.

Herr Professor Reichert, Sie haben bis Juni dieses Jahres in der Hauptstadt der USA gelebt. Wie haben Sie die Stimmung rund um die Präsidentschaftswahlen wahrgenommen?

Die Zeit bis zur Ausreise war sehr intensiv. Mit der Pandemie, den unmittelbar spürbaren Protesten infolge des Todes von George Floyd und dem sich zuspitzenden Wahlkampf kamen einfach unheimlich viele Faktoren auf einmal zusammen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass viele Menschen in unserer direkten Umgebung das Land gar nicht wiedererkannt haben. Ihr Jubel am Wochenende nach der Wahl scheint recht schnell der Sorge um politische Stabilität und Einhaltung demokratischer Prozesse gewichen zu sein. Insgesamt bin ich jedoch zuversichtlich, dass sich nach wenigen Monaten wieder Normalität einstellen wird und das Land nach vorne schauen kann.    

 

Sie sind nach sechs Jahren in der evidenzbasierten Politikberatung in den Hochschulalltag zurückgekehrt. Was hat Sie zum Wechsel von der Weltbank in Washington DC an die Leibniz Universität in Hannover bewegt und welche sind Ihre wichtigsten Erfahrungen aus dieser Zeit in einer internationalen Organisation?

In der Weltbank war ich stark in die Schaffung von empirischer Evidenz für die effektive Politikberatung eingebunden. Diese anwendungsorientierte Forschung werde ich an der Leibniz Universität in Hannover weiterverfolgen. Besonders hat mich begeistert, dass alle meine forschungsbezogenen Steckenpferde, die Gesundheits- und Entwicklungsökonomie sowie technologische Innovationen, schwerpunktmäßig in der Fakultät verankert sind. Zudem ist sie in Forschung und Lehre sehr stark. Im Bereich der gesundheitsökonomischen Forschung ist sie mit dem CHERH beispielsweise eine der Top-Adressen im deutschsprachigen Raum.

Einbringen möchte ich meine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Institutionen und Politik, in die diversitätsbewusste Vermittlung komplexer Inhalte, die Leitung multikultureller, interdisziplinärer Projektteams und in den Aufbau von Forschungskooperationen mit national und international führenden Expertinnen und Experten sowie Einrichtungen.

 

Ihr Interesse galt schon sehr früh der Entwicklungsökonomie – als Friedensdienstleister in Mexiko, später während Ihrer Praktika in Landes- und Bundesministerien für Wirtschaft und Entwicklung und als junger Diplomvolkswirt an der Universität in Augsburg. Während Ihrer Promotion an der Ruhr Universität Bochum und ihrer Zeit als Referent am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung haben sie sich dann der volkswirtschaftlichen Betrachtung des Gesundheitswesens gewidmet und beispielsweise den medizinischen Rehabilitationssektor und Gesundheitsvorsorgeprogramme analysiert. Wenn Sie zurückblicken, wer oder was hat Sie in Ihrer akademischen Entwicklung geprägt?

Ich denke, dass das Jahr in Mexiko mich sehr stark und in alle Lebensbereiche hinein geprägt hat. Mit gerade einmal neunzehn Jahren und zunächst ohne nennenswerte Spanischkenntnisse war es schon eine große und tolle Herausforderung, in eine komplett andere Kultur und auch Lebenswirklichkeit einzutauchen. In dieser Zeit entschied ich mich auch für das Studium der Wirtschaftswissenschaften, weil ich mich intensiv mit den Ursachen und Möglichkeiten der Bekämpfung von Armut sowie mit verwandten großen sozialen Fragen wie der Gestaltung von Gesundheitssystemen auseinandergesetzt habe. Die empirische Arbeit habe ich dann im Laufe des Studiums, insbesondere am RWI kennengelernt. Damals wie heute konnte ich von meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph M. Schmidt sehr profitieren. 

 

Das deutsche Gesundheitssystem und die Gesundheitspolitik befinden sich aufgrund der Pandemie seit Monaten in einem Stresstest. Die Zukunft der Gesundheitswirtschaft in Deutschland ist außerdem vom demografischen Wandel geprägt. Politik und Gesellschaft müssen die Diskussion um den künftigen Leistungsumfang des Gesundheitswesens führen, um auch folgenden Generationen eine angemessene Versorgung zu ermöglichen. Mit welchen Argumenten werden Sie Ihre Studierenden für Ihr Lehr- und Forschungsgebiet begeistern?

So einfach wie in diesen Tagen war es zu meinen Lebzeiten womöglich noch nie, die Relevanz des Gesundheitssektors und die Frage des Umgangs mit knappen gesundheitsbezogenen Ressourcen aufzuzeigen. Die Studierenden erleben ja derzeit die Implikationen gesundheitspolitischer Entscheidungen hautnah und begreifen, wie sich ihre individuellen Entscheidungen auf das Gemeinwohl auswirken können.  

 

Bitte geben Sie uns einen kurzen Einblick in Ihre aktuelle Forschung. Welchen Themen werden Sie sich in den kommenden Monaten zuwenden und wo gibt es mögliche Anknüpfungspunkte an die Forschungsschwerpunkte der Fakultät?

In meiner Forschung setze ich mich theoretisch und empirisch mit ökonomischen Fragen im Spannungsfeld von Gesundheit, technologischen Innovationen und Entwicklung auseinander und untersuche hierbei häufig informations- und verhaltensökonomische Entscheidungsmodelle. Mit den drei Forschungsschwerpunkten gibt es daher naturgemäß sehr viele Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel untersuche ich in einem Feldexperiment im Kontext eines Weltbankprojekts, wie bei Frauen im ländlichen Raum Burundis die Einführung eines neuen Langzeit-Schwangerschaftsverhütungsmittels gelingen kann, wenn diese ernsthafte Sorgen vor sozialer Stigmatisierung fürchten müssen.

Ein anderes spannendes Projekt mit vielen Anknüpfungspunkten an die Forschungsschwerpunkte der Fakultät ist die experimentelle Untersuchung von innovativen Learning-Apps auf Smartphones, die Schülern im Senegal und in Nigeria trotz Schulschließungen in Zeiten des Corona-bedingten Social Distancing das Lesen beibringen sollen.

 

Gestatten Sie abschließend eine persönliche Frage. Sie sind nicht nur Hochschullehrer und Forscher, sondern auch dreifacher Vater. Täglich ändert sich die Nachrichtenlage, neue Empfehlungen beeinflussen unseren Alltag und schränken unser soziales Miteinander ein. Was lohnt es nach Ihrer Meinung, aus dieser besonderen Zeit zu bewahren?

Die vielen Ausflüge mit der ganzen Familie in die Natur! Aber lassen Sie mich an dieser Stelle in etwas größeren Zusammenhängen denken. Als ich im Juni in Frankfurt aus dem Flugzeug gestiegen bin, ist mir gleich das selbstverständliche Tragen der Masken aufgefallen. Auch wenn sich das zwischenzeitlich möglicherweise ein wenig geändert hat, steht das Bild für mich für den Zusammenhalt in der deutschen Gesellschaft in schwierigen Zeiten. Das gegenseitige Vertrauen kann uns helfen, mit Wohlwollen und Verständnis aufeinander zuzugehen und die für die Funktionstüchtigkeit des demokratischen Systems notwendige Kompromissfähigkeit zu leben. Das stimmt mich im Übrigen auch als Familienvater vor dem Hintergrund der vielen, bislang ungelösten, großen Zukunftsfragen optimistisch. 

 

Vielen Dank für Ihre Auskünfte.

 

Die Fragen stellte Birgitt Baumann-Wohlfahrt.